Wie Karakulschafe mein Leben veränderten
Die Sonne hatte Mut gefasst und schien nun warm und rein vom blaulackierten Himmel. Ich rief meine alte Freundin Marthe an, ob sie Zeit und Lust hätte für einen Spaziergang. Kurze Zeit später schlenderten wir träge plaudernd am Paul-Lincke-Ufer entlang, vorbei an Kreuzberger Tagedieben und rasenden Radfahrern, vorbei an munteren Boulespielern, an Liebespaaren, an den vielen Müttern mit Kinderwagen, den lesenden Studenten und den betrunkenen Obdachlosen.
Wir schwatzten über dieses und jenes, Wichtiges, Fundamentales und Bedeutsame dieser Welt – über Tapetenmuster, Küchengeräte, ganz und gar ausführlich über die uns unverständliche Mode der fehlenden Schnürsenkel in Turnschuhen und sogar über Außenpolitik. Alles war in diesem Moment gut, richtig, rund und warm – und so schlenderten wir vor uns hin. Marthe plauschte gedankenverloren, sie habe kürzlich eine Fernsehsendung gesehen, die das Thema – auf den ersten Blick zwar überraschend, dann aber durchaus nachzuvollziehen – Wechselbeziehung von Schafen und Weltpolitik behandelte.
Plötzlich erinnerte ich mich an ein Buch, das ich als Kind gelesen hatte. Eigentlich war ich zu dieser Zeit schon nicht mehr richtig ein Kind, sondern befand mich in dieser merkwürdigen Zwischenzeit dieser ersten Irritationen über die Welt und mich, über diese merkwürdigen, unerklärlichen Zustände meiner Umgebung, die so beunruhigend, so besorgniserregend und so sehr anstrengend waren.
Ich kann mich bis heute weder an den Titel des Buches erinnern noch an den Namen des Autors oder gar, wie das Buch gestaltet war, aber ich kann mich gut an die Geschichte erinnern: Es ging um einen Jungen in Südafrika, der mit seinem Vater auf einer Farm lebte, auf der Karakulschafe gezüchtet wurden. Dieser Junge mochte ein Mädchen sehr gern, das kürzlich mit seiner Familie zugezogen war. Das Mädchen trug ein Kleidungsstück, das Sari genannt wurde – ein komischer Name, fand ich damals. Der Vater des Jungen wollte jedoch nicht, dass die beiden Kontakt miteinander hatten. Er wollte das nur deshalb nicht, weil das Mädchen eine dunkle Hautfarbe hatte. Wegen ihrer dunklen Hautfarbe? Das fand ich höchst erstaunlich, denn an den vielen heißen Sommertagen bekam auch ich immer eine dunkelbraune Haut. Und nun las ich, dass das ein Problem sein konnte.
Ich fühlte deutlich, dass mir hier, in diesem Buch, etwas ganz Neues, Ungeheuerliches, Empörendes erzählt wurde. Dies war nicht solch eine Geschichte wie meine heiß geliebten „Hanni und Nanni“-Bücher, sondern der Erzähler dieser zarten Liebesgeschichte wollte mir etwas sagen, etwas Wichtiges – aber ohne erhobenen Zeigefinger, sondern ganz leise und zurückhaltend. Umso mehr war ich verstört und beunruhigt über das, was ich da gelesen, aber noch nicht verstanden hatte.
So lernte ich mit diesem Buch zum ersten Mal in meinem Leben die Art von Unrecht kennen, das über mein eigenes Erleben hinausging. Ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte im Buch ausgeht. Was ich damals jedoch durch dieses Kinderbuch erfahren habe, hat bis heute Einfluss auf meinen Blick auf die Welt.